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Anmerkungen zu § 72 ZPO

§ 72 Abs.2 ZPO wurde eingefügt
durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22.12.06
(Art.10 Nr.2, BGBl.2006  S.3416, 3420, 3421, in Kraft seit 31.12.06).

 

aus der Begründung zum 2. Justizmodernisierungsgesetz

--> Gesetzentwurf  (mit Begründung)

B. Einzelbegründung

Artikel 10 Nr.2 (§ 72 Abs.2 ZPO)

Durch Artikel 2 Nr.5 des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.07.2002 (BGBl. I  2002  S.2674) ist die Vorschrift des § 839a BGB über die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt worden. Hiermit wurde ein neuer Haftungstatbestand geschaffen; ein gerichtlicher Sachverständiger hat nunmehr - gleichgültig ob er beeidigt wurde oder nicht - stets für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit einzustehen, sofern einem Prozessbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung, die auf dem unrichtigen Gutachten beruht, ein Schaden entsteht (vgl. BR-Drs. 742/01, S.66).

Nach Mitteilung des Bundesverbandes öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e.V. (BVS) ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass gerichtlich bestellten Sachverständigen auf der Grundlage des § 839a BGB in zunehmendem Maße von Prozessparteien der Streit verkündet wird. Eine von dem Bundesministerium der Justiz veranlasste Umfrage unter den Landesjustizverwaltungen hat zwar ergeben, dass an den meisten Gerichten Streitverkündungen gegen Sachverständige bislang nur selten oder gar nicht erfolgt sind. Jedoch wurde auch berichtet, dass derartige Fälle stark zugenommen hätten - in einer Stellungnahme wurde plakativ von einer "Seuche" gesprochen, die schnell um sich greife. Soweit derzeit noch keine Zunahme von Streitverkündungen gegen Sachverständige festgestellt worden ist, wurde teilweise die Befürchtung geäußert, dass zukünftig vermehrt mit derartigen Fällen zu rechnen sei, da die Frage der Zulässigkeit der Streitverkündung in letzter Zeit eine gesteigerte Aufmerksamkeit in der Fachliteratur erfahre.

Soweit Streitverkündungen gegenüber gerichtlich bestellten Sachverständigen zu verzeichnen waren, erfolgten diese vielfach, nachdem zuvor ein Befangenheitsantrag der den Streit verkündenden Partei gegenüber dem Sachverständigen rechtskräftig abgelehnt worden war. Dies deutet darauf hin, dass die Partei in diesen Fällen den Streit nicht verkündete, um die Interventionswirkung zu erreichen (§§ 74, 68 ZPO), sondern um das Verhalten des Sachverständigen zu beeinflussen oder ihn aus dem Verfahren zu drängen.

Diese Prozesstaktik hat zu einer Verunsicherung unter den Sachverständigen geführt. Neben dem hierdurch ausgeübten Druck, dem es standzuhalten gilt, hat ein gerichtlich bestellter Sachverständiger auch zu prüfen, wie er auf eine gegen ihn gerichtete Streitverkündung reagiert. Insbesondere hat er die Entscheidung zu treffen, ob er dem Streitverkünder nach § 74 Abs.1 ZPO beitreten sollte, um einen eventuell nachfolgenden Schadensersatzprozess abzuwehren. Es sind auch Fälle bekannt geworden, in denen die Haftpflichtversicherer der Gutachter Sachverständige zu einem Beitritt aufgefordert haben. Ein Beitritt ist aber für den Sachverständigen nachteilig. Er würde hiermit seine Neutralitätspflicht verletzen und könnte wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden (§§ 406, 42 ZPO; vgl. BGH, Urteil vom 12.01.2006, VII ZR 207/04). Nach einer erfolgreichen Ablehnung wäre sein Gutachten für das Urteil nicht mehr verwertbar und er liefe Gefahr, seinen Vergütungsanspruch zu verlieren.

Die überwiegende Ansicht in Literatur und Rechtsprechung vertritt zwar die Ansicht, dass eine Streitverkündung gegen einen gerichtlich bestellten Sachverständigen unzulässig ist (vgl. Böckermann, MDR 2002,1348; Rickert/König, NJW 2005,1829; Zöller, 25.Aufl., § 72 Rn.1; Stein/Jonas, 22.Aufl., § 72 Rn.3; OLG Koblenz, BauR 2006,144). Jedoch gibt es auch Gegenstimmen (vgl. Bockholdt, NJW 2006,122). Der Bundesgerichtshof hat diese Frage bislang offen gelassen (Beschluss vom 10.02.2005, VII ZB 22/04; Urteil vom 12.01.2006, VII ZR 207/04). Die hieraus entstehende Unsicherheit für den Sachverständigen wird dadurch verstärkt, dass über die Zulässigkeit der Streitverkündung grundsätzlich erst in einem eventuellen Folgeprozess zu entscheiden ist. Nur zum Teil wird dem Gericht des Ausgangsprozesses die Befugnis zugestanden, bereits die Zustellung der als unzulässig angesehenen Streitverkündungsschrift abzulehnen (so OLG Koblenz, BauR 2006,144; grds. ablehnend OLG Celle, IBR 2006,61).

Die vorgeschlagene Einfügung eines neuen § 72 Abs.2 ZPO will diese Rechtsunsicherheit beseitigen, indem klarstellt wird, dass der vom Gericht ernannte Sachverständige kein Dritter im Sinne der Vorschrift ist. Da nach § 72 Abs.1 ZPO nur einem Dritten der Streit verkündet werden kann, folgt hieraus zweifelsfrei, dass eine Streitverkündung gegen den gerichtlich bestellten Sachverständigen unzulässig ist. Der Entwurf folgt damit der überwiegenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung, die dieses Ergebnis bereits für die derzeitige Rechtslage bejaht. Von den unterschiedlichen in Betracht kommenden Regelungsansätzen erscheint die vorgeschlagene negative Legaldefinition am besten geeignet, um das Ziel einer eindeutigen und damit für&nmbsp;die Prozessbeteiligten verständlichen Klarstellung zu erreichen. Der neue Absatz 2 Satz 2 stellt zusätzlich klar, dass die Vorschrift des § 73 Satz 2 ZPO, wonach der Schriftsatz dem Dritten zuzustellen und dem Gegner des Streitverkünders in Abschrift mitzuteilen ist, keine Anwendung findet.

Auch das Gericht, d. h. der entscheidende Richter bzw. die Richter des entscheidenden Kollegiums, ist nach der vorgeschlagenen Gesetzesänderung nicht Dritter im Sinne des § 72 ZPO. Dabei sind unter "Gericht" auch Teile des Gerichts zu verstehen, so dass etwa eine Streitverkündung nur gegenüber dem Berichterstatter ebenfalls ausgeschlossen ist. Richter und Sachverständige werden im Hinblick auf die Frage der Zulässigkeit einer gegen sie gerichteten Streitverkündung also gleichbehandelt. Denn es wäre für beide gleichermaßen systemwidrig, sie als Dritte im Sinne des § 72 ZPO anzusehen (vgl. Böckermann, MDR 2002,1348; Rickert/König, NJW 2005,1829). Unter einem "Dritten" versteht man nach dem allgemeinen Sprachgebrauch einen Außenstehenden. Der Richter ist jedoch notwendiger Teil des Verfahrens und kann daher kein außenstehender Dritter sein. Entsprechendes gilt für den in einer Sache bestellten gerichtlichen Sachverständigen, da dieser weisungsgebundener Gehilfe des Gerichts ist (vgl. § 404a ZPO).

Die mit dem Institut der Streitverkündung intendierten Zielsetzungen sprechen ebenfalls dagegen, Richter und Sachverständige als Dritte im Sinne des § 72 ZPO anzusehen. Mit der Streitverkündung soll ein Dritter von dem Schweben eines Prozesses benachrichtigt werden, um ihm die Möglichkeit der Prozessbeteiligung oder -übernahme zu geben und dem  Streitverkünder den nachfolgenden Rückgriffprozess gegen den Dritten zu erleichtern (§§ 74, 68 ZPO). Schon die Benachrichtigungsfunktion geht bei einer Streitverkündung gegen das Gericht und den gerichtlich bestellten Sachverständigen ins Leere. Auch stellt die Möglichkeit der Prozessbeteiligung weder für das Gericht noch für den Sachverständigen einen gangbaren Weg dar: Wie bereits ausgeführt wurde, ist für den Sachverständigen eine Prozessbeteiligung nachteilig (Ablehnung wegen Befangenheit, ggf. Verlust des Vergütungsanspruchs). Ein Richter wäre im Falle seines Beitritts nach § 41 Nr.1 ZPO ausgeschlossen.

Ihr gesetzliches Ziel der Interventionswirkung gemäßß den §§ 74 Abs.3, 68 ZPO kann die Streitverkündung in diesen Konstellationen allenfalls in seltenen Ausnahmen erreichen. Im Hinblick auf einen Regressanspruch gegen den Sachverständigen aus § 839a BGB geht die Interventionswirkung regelmäßig ins Leere, weil der Sachverständige zur Abwendung des Schadensersatzanspruchs genau das behaupten müsste, was durch die Streitverkündung bereits verbindlich festgestellt wurde, nämlich die Richtigkeit des - auf seinem Gutachten basierenden - Urteils (vgl. § 68 Halbs.1 ZPO). Entsprechendes gilt im Hinblick auf einen Regressanspruch gegen den Richter aus § 839a BGB. Soweit Bockholdt (NJW 2006,122) argumentiert, der Sachverständige könne sich im Folgeprozess gegenüber einer Inanspruchnahme aus § 839a BGB auch damit verteidigen, dass das Urteil des Vorprozesses trotz Unrichtigkeit des zu Grunde gelegten Gutachtens aus einem anderen Grunde richtig gewesen sei, dürfte ihm dieser Einwand durch § 68 Halbs.1 ZPO nicht abgeschnitten werden. Denn in Interventionswirkung erwachsen neben dem Entscheidungssatz nur die "tragenden Feststellungen", d.h. die hinreichenden und notwendigen Bedingungen der Erstentscheidung (vgl. Vollkommer, NJW 1986,264).

Auch eine mögliche Hemmung der Verjährung des Regressanspruchs rechtfertigt das Interesse der Partei an der Streitverkündung nicht maßgeblich (so aber Bockholdt, a.a.O.). Der eingefügte Absatz 2 schließt lediglich die Hemmung nach § 204 Abs.1 Nr.6 BGB aus. Der Regressanspruch ist auf den Ersatz des durch die unrichtige gerichtliche Entscheidung entstandenen Schadens gerichtet, so dass er tatsächlich erst mit der Entscheidung des Erstprozesses entstehen und mit der in § 199 Abs.1 Nr.2 BGB vorgesehenen Kenntnisnahme die Verjährungsfrist beginnen kann. Für diesen Anspruch nach § 839a BGB verbleibt es bei den anderen Möglichkeiten des § 204 Abs.1 BGB, die Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung herbeizuführen.

Festzuhalten bleibt, dass es einer Streitverkündung gegen das Gericht oder den Sachverständigen nicht bedarf, um dem Streitverkünder den Regressanspruch aus § 839 BGB bzw. § 839a BGB zu erhalten. Insbesondere benötigt die Partei die Streitverkündung nicht, um die Ursächlichkeit des Gutachtens für die vermeintliche Fehlentscheidung des Erstgerichts in den Folgeprozess einzuführen. Die Ursächlichkeit ergibt sich vielmehr unmittelbar aus dem Text der ersten Entscheidung. Demgegenüber hätte die Zulassung einer Streitverkündung gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen die bereits dargelegten negativen Auswirkungen. Im Übrigen würde die Streitverkündung gegenüber dem Sachverständigen sowie auch gegenüber dem Gericht zu einer - unter Umständen erheblichen - Verfahrensverzögerung führen. Die Nachteile der Streitverkündung überwiegen das Interesse der den Streit verkündenden Partei so erheblich, dass sie auch für den Fall, dass mit ihr im Einzelfall keine rechtsmissbräuchlichen Zwecke verfolgt werden, unterbunden werden sollte.

Andere Prozessbeteiligte als die am Verfahren beteiligten Richter oder gerichtlichen Sachverständigen können grundsätzlich Dritter im Sinne des § 72 Abs.1 ZPO sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger als Erster und der Beklagte als Zweiter des Verfahrens nicht zugleich Dritter sein können; dies versteht sich von selbst und bedarf daher keiner Klarstellung. Dritter kann jedoch ein Streitgenosse des Verkünders oder des Gegners sein (Zöller, ZPO, 25.Aufl., § 72 Rn.1, § 66 Rn.6). Auch Zeugen kann grundsätzlich der Streit verkündet werden. Geschieht die Streitverkündung allerdings in der Absicht, das Aussageverhalten des Zeugen zu beeinflussen, wird sie als rechtsmissbräuchlich anzusehen sein. Dem steht die nunmehr vorgenommene Klarstellung, dass eine Streitverkündung gegen das Gericht oder den gerichtlich bestellten Sachverständigen schon deshalb ausscheidet, weil sie nicht Dritter sind, nicht entgegen.

 
 
Hinweis:

Der Bundesgerichtshof hatte bereits am 27.07.06 wie folgt entschieden:

"Die Streitverkündung gegenüber einem gerichtlichen Sachverständigen zur Vorbereitung von Haftungsansprüchen gegen diesen aus angeblich fehlerhafter, im selben Rechtsstreit erbrachter Gutachterleistungen ist unzulässig. Der Streitverkündungsschriftsatz ist nicht zuzustellen."
  • BGH, Beschluss vom 27.07.06, VII ZB 16/06


  • siehe hierzu auch:
  • BGH, Beschluss vom 28.07.06, III ZB 14/06

  •     (auch keine Streitverkündlung)
     



    Rechtsanwalt Arne Maier, Am Kronenhof 2, 73728 Esslingen