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Anmerkungen zu § 580 ZPO

§ 580 Nr.8 ZPO (Restitutionsklage bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention) wurde eingefügt
durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22.12.06
(Art.10 Nr.6, BGBl.2006  S.3416, 3420, 3421, in Kraft seit 31.12.06).
-->  Gesetzesbegründung

Übergangsvorschrift (§ 35 EGZPO = Art.9 Nr.2 2.JuMoG):
Auf Verfahren, die vor dem 31.12.2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, ist § 580 Nr.8 ZPO nicht anzuwenden.
-->  Gesetzesbegründung zur Übergangsvorschrift

 

aus der Begründung zum 2. Justizmodernisierungsgesetz

--> Gesetzentwurf  (mit Begründung)

B. Einzelbegründung

Artikel 10 Nr.6 (neuer Restitutionsgrund in § 580 Nr.8 ZPO)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat weder die Kompetenz, Rechtsnormen für nichtig zu erklären, noch die Möglichkeit, Urteile der nationalen Gerichte aufzuheben, durch die Rechte der Konvention verletzt werden. Er stellt lediglich eine Verletzung der Rechte aus der Konvention fest. Die Entscheidungen des EGMR haben jedoch bindende Wirkung. Dies folgt aus Artikel 46 Abs.1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK): "Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen." Der Konventionsstaat ist verpflichtet, die Konventionsverletzung abzustellen und Ersatz für die Folgen zu leisten. Die Überwachung dieser Verpflichtung erfolgt durch das Ministerkomitee (Artikel 46 Abs.2 EMRK).

Soweit die Entscheidung des Gerichtshofs lediglich in die Zukunft weist, ist ihre Umsetzung regelmäßig unproblematisch. Die Konventionsverletzung ist zu beenden, eine Wiederholung ist zu unterlassen. Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn die Konventionsverletzung einen abgeschlossenen Sachverhalt betrifft bzw. nicht allein durch zukünftige Änderungen abgestellt werden kann. Denn bei rechtskräftigen Gerichtsurteilen ist der Staat durch die Rechtskraft gebunden; das die Konventionsverletzung feststellende Urteil des EGMR durchbricht die Rechtskraft nicht. Eine Aufhebung des Urteils ist nur in den Fällen der ausdrücklich geregelten Wiederaufnahme möglich.

Einen spezifischen Wiederaufnahmegrund für den Fall, dass der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt hat, kennt bislang nur die Strafprozessordnung (§ 359 Nr.6 StPO). Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist in diesem Fall zulässig, wenn&nbs;das Urteil auf der Konventionsverletzung beruht. Ein solcher, grundsätzlich alle Konventionsverletzungen umfassender Wiederaufnahmegrund fehlt im Zivilprozess. Zwar gibt es Auffassungen in der Literatur, die in analoger Anwendung insbesondere des § 580 Nr.7 lit.b ZPO einer Entscheidung des EGMR die Qualität eines Wiederaufnahmegrundes zukommen lassen wollen (vgl. etwa Stein/Jonas, ZPO, 21.Aufl., Vorb. § 578 Rn.58 m.w.N. in Fn.134; Zöller, ZPO, 25.Aufl., Einl. Rn.136). In der Rechtsprechung ist der Vorschlag einer analogen Anwendung des Wiederaufnahmerechts jedoch auf Ablehnung gestoßen (vgl. etwa OLG Dresden, VIZ 2004,459; OLG Brandenburg, VIZ 2004,525). Das Bundesverfassungsgericht hat die Ablehnung einer erweiternden Auslegung der Regelungen zur Wiederaufnahme in seinem Nichtannahmebeschluss vom 17.08.2004 zu dem Aktenzeichen 1 BvR 1493/04 als in verfassungsrechtlicher Hinsicht unbedenklich angesehen.

Nur bei bestimmten Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) besteht auch im Zivilprozess die Möglichkeit der Wiederaufnahme. Dies gilt jedenfalls insoweit, als einzelne Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 EMRK mit den in der Zivilprozessordnung benannten Wiederaufnahmegründen übereinstimmen. Zu nennen sind hier insbesondere die Wiederaufnahmegründe für eine Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs.1 ZPO (keine vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richters am Verfahren, Mitwirkung eines wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Richters, keine vorschriftsmäßige Parteivertretung). Artikel 6 Abs.1 EMRK und § 579 ZPO sind jedoch nicht deckungsgleich.

Es kann also dazu kommen, dass der EGMR eine Konventionsverletzung feststellt, aber das die Konvention verletzende rechtskräftige Urteil nicht aus der Welt geschafft werden kann. Der Beschwerdef¨hrer muss sich in diesen Fällen grundsätzlich mit der Feststellung der Rechtsverletzung und einem etwaigen Entschädigungsanspruch gemäß Artikel 41 EMRK begnügen. Nicht in jedem Fall wird die Rechtsverletzung jedoch auf diese Weise vollständig bzw. befriedigend behoben werden können.

Mit der vorgeschlagenen Ergänzung des § 580 ZPO wird Abhilfe geschaffen, so dass künftig auch die Zivilprozessordnung einen spezifischen Wiederaufnahmegrund für den Fall, dass der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt hat, enthalten wird. Durch die Verweise auf die Wiederaufnahmegründe der Zivilprozessordnung wird sich diese Ergänzung auch auf andere Verfahrensordnungen auswirken (vgl. §§ 79 ArbGG, 179 SGG, 153 VwGO, 134 FGO; s. auch § 51 FamFG-E).

Die EMRK und auch das deutsche Verfassungsrecht verpflichten zwar nicht dazu, eine Wiederaufnahme zu ermöglichen. Der Gerichtshof weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass der beklagte Staat frei ist, diejenigen Mittel zu wählen, mit denen er seiner Verpflichtung aus Artikel 46 EMRK nachkommen will, vorausgesetzt, dass diese Mittel vereinbar sind mit den im Urteil des Gerichtshofs genannten Schlussfolgerungen (Urteil des EGMR vom 08.07.2003, Lyons ./. VK, EuGRZ 2004,777,778). Es sind aber durchaus Fälle denkbar, in denen die Konventionsverletzung nur durch eine Wiederaufnahme beendet bzw. auf befriedigende Weise abgestellt werden kann. Hierauf weist auch die Empfehlung Nr. R (2000)2 des Ministerkomitees des Europarats vom 19.01.2000 hin, in der die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu aufgerufen werden, die Wiederaufnahme des Verfahrens in ihren nationalen Rechtsordnungen vorzusehen. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme habe sich in bestimmten Fällen als das effektivste, wenn nicht einzige, Mittel der vollständigen Abhilfe bei einer Konventionsverletzung gezeigt (restitutio in integrum).

Vorstellbar sind auch Entscheidungen des EGMR, mit denen dieser neben einem Feststellungsanspruch konkrete Weisungen ausspricht, deren Befolgung von der Beseitigung der entgegenstehenden Rechtskraft abhängig wäre (vgl. z.B. die in der Entscheidung des EGMR vom 08.04.2004, Nr.198ff,203, Assanidze ./. Georgien, ausgesprochene Anweisung der Freilassung). Hier wäre der Konventionsstaat gemäß Artikel 46 EMRK letztlich doch gehalten, die Konventionsverletzung durch eine Wiederaufnahme des Verfahrens abzustellen.

Der oben genannten Empfehlung Nr. R (2000)2 des Ministerkomitees des Europarats sind bereits einige Staaten gefolgt und haben die Wiederaufnahme nach einer Entscheidung des EGMR in ihren nationalen Zivilprozessordnungen vorgesehen (z.B. Norwegen, Schweiz, Bulgarien, Kroatien, Litauen, Rumänien, Slowakische Republik, Türkei, Ukraine). Der Unterausschuss DH-PR (Committee of Experts for the Improvement of Procedures for the Protection of Human Rights) des Europarates hat sich zuletzt vom 7.-10.03.2006 im Rahmen eines Follow-up mit dieser Empfehlung des Ministerkomitees befasst und sich dafür ausgesprochen, die Mitgliedstaaten zu ermutigen, entsprechende Wiederaufnahmemöglichkeiten für Zivil- und Verwaltungsverfahren vorzusehen. Der Lenkungsausschuss Menschenrechte des Europarats (CD-DH) hat den Bericht des Unterausschusses in seiner 62. Sitzung im April 2006 angenommen. Mit der vorgeschlagenen Ergänzung des § 580 ZPO wird sich Deutschland in die Reihe derjenigen Staaten einreihen, die der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats bereits gefolgt sind und damit in besonderem Maße dem Prinzip einer konventionsfreundlichen Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts entsprochen haben.

Dass der neue § 580 Nr.8 ZPO die Justiz übermäßig belasten wird, ist in Anbetracht der geringen Anzahl der Fälle nicht zu erwarten. Dem grundsätzlich schutzwürdigen Vertrauen eines  Dritten - hier der Gegner des Ausgangsverfahrens - in die Rechtskraft der nationalen Entscheidung kann dadurch Rechnung getragen werden, dass die Bundesregierung diesen von einer anhängigen Individualbeschwerde beim EGMR unterrichtet und ihn auf die Möglichkeit der Drittbeteiligung und gegebenenfalls auch der Wiederaufnahme hinweist.

Die Neuregelung ist im Wortlaut identisch mit dem Wiederaufnahmegrund nach § 359 Nr.6 StPO. Dies steht nicht nur in Übereinstimmung mit der übergeordneten Zielsetzung einer größtmöglichen Angleichung der Verfahrensordnungen, sondern ist auch in der Sache angemessen. Ebenso wie im Strafprozess sollte nicht jede Konventionsverletzung eine Wiederaufnahme rechtfertigen, sondern vielmehr Voraussetzung sein, dass das Urteil auf dem von dem EGMR festgestellten Verstoß beruht. Dies entspricht den Voraussetzungen, unter denen nach § 545 Abs.1 ZPO im Revisionsverfahren eine Verletzung des Rechts mit Erfolg gerügt werden kann.

Die Restitutionsklage nach § 580 Nr.8 ZPO-E ist bei dieser Ausgestaltung auch dann zulässig, wenn der EGMR dem Beschwerdeführer eine Entschädigung nach Artikel 41 EMRK zugesprochen hat. Es erscheint nicht sachgerecht, die Regelung dahingehend auszugestalten, dass eine Wiederaufnahme von vornherein in allen Fällen ausgeschlossen ist, in denen der EGMR eine Entschädigung (sei es auch nur in geringer Höhe) zugesprochen hat. Denn hierdurch würden die Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichtshofs faktisch eingeschränkt, was weder interessengerecht noch international vermittelbar wäre.

Die Einschätzung, ob eine Entschädigung notwendig ist und ob es dem Beschwerdeführer insbesondere zuzumuten ist, erneut im staatlichen Recht gegebene Rechtsbehelfe auszuschöpfen, obliegt gemäß Artikel 41 EMRK dem EGMR. Der Gerichtshof kann die Möglichkeit einer Wiederaufnahme als ausreichende Wiedergutmachung ansehen bzw. dem Beschwerdeführer deswegen eine deutlich geringere Entschädigung zusprechen. Er kann eine Entschädigung auch hilfsweise zusprechen, nämlich z.B. für den Fall, dass die in erster Linie angeordnete Rückgabe einer enteigneten Sache binnen bestimmter Frist nicht geschieht (Urteil des EGMR vom 31.10.1995, Papmichalopoulos ./. Griechenland, Nr.50); bei dieser Beurteilung wird der EGMR auch die Möglichkeit und eventuelle Dauer eines Wiederaufnahmeverfahrens berücksichtigen. Eine Restitutionsklage, die nach deutschem Zivilprozessrecht nur dann zulässig wäre, wenn der Gerichtshof überhaupt keine Entschädigung gemäß Artikel 41 EMRK zugesprochen hat, würde die Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichtshofs insofern einschränken, als er bei Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland nur die Möglichkeit hätte, entweder selbst eine Entschädigung in voller Höhe zuzusprechen oder auf die Wiederaufnahme zu verweisen.

Die eventuelle Zahlung einer Entschädigung kann und wird das Gericht, vor dem das Wiederaufnahmeverfahren stattfindet, in geeigneten Fällen berücksichtigen. Insoweit gelten die allgemeinen schuldrechtlichen Erwägungen, so dass beispielsweise bei einer Schmerzensgeldklage zu prüfen sein wird, inwieweit eine durch den EGMR zugesprochene Entschädigung bereits einen Ausgleich für erlittene Schmerzen und Leiden darstellt.

 
mein Kommentar:

Der neue Restitutionsgrund ist rundum zu begrüßen; er war längst überfällig. Man fragt sich jedoch, warum es zur Einführung einer derart selbstverständlichen Regelung einer so ausführlichen Begründung im Gesetzentwurf bedurfte.
 

 
Artikel 9 Nr.2 (Übergangsvorschrift in § 35 EGZPO)

Die Übergangsregelung stellt sicher, dass eine Anwendung des neuen Restitutionsgrundes nach § 580 Nr.8 ZPO erst für diejenigen Entscheidungen in Betracht kommt, die nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung rechtskräftig abgeschlossen werden (vgl. § 578 Abs.1 ZPO). Ohne diese Regelung bestünde die Gefahr einer unzulässigen rückwirkenden Anwendung der Neuregelung.

Die Statuierung eines neuen Wiederaufnahmegrundes stellt für die betroffene gegnerische Partei eine Belastung dar. Diese darf aufgrund der Rechtskraft des zu ihren Gunsten ergangenen Urteils grundsätzlich auf dessen Bestand vertrauen. Zwar ist innerhalb der Frist von fünf Jahren des § 586 Abs.2 Satz 2 ZPO eine Wiederaufnahme müglich, jedoch nur aus den in den §§ 579, 580 ZPO genannten Nichtigkeits- bzw. Restitutionsgründen. Ein Gesetz, das rückwirkend einen neuen Restitutionsgrund normiert, greift in einen abgeschlossenen Sachverhalt ein (sog. echte Rückwirkung). Die echte Rückwirkung ist aber grundsätzlich unzulässig. Der Bürger soll sich auf die rechtlichen Grundlagen und Bedingungen seiner Lebensgestaltung im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung verlassen können. Sie ist allein beim Vorliegen zwingender Gründe des gemeinen Wohls oder im Falle eines fehlenden schutzwürdigen Vertrauens möglich (vgl. BVerfGE 72,200,258). Vorliegend kommt keine der vom Bundesverfassungsgericht für die Zulässigkeit echter Rückwirkung entwickelten Fallgruppen in Betracht (vgl. BVerfGE 13,261,272f; 30,367,390f; 72,200,227f,260; 88,384,404; 97,67,81f; 101,239,268; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 8.Aufl., Art.20 Rn.72 m.w.N.).



Rechtsanwalt Arne Maier, Am Kronenhof 2, 73728 Esslingen