|
Leitsätze: |
1. |
Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
ist geklärt, dass die Richtlinie 98/59/EG (...) auch den Zweck hat,
die einzelnen Arbeitnehmer vor Massenentlassungen zu schützen.
Für eine bewusste Abweichung des deutschen Gesetzgebers bei Umsetzung
der Richtlinie durch §§ 17, 18 KSchG ist nichts ersichtlich,
so dass die Zwecksetzung der Richtlinie auch der Auslegung
des deutschen Rechts zugrunde zu legen ist. |
2. |
Unterrichtung und Beratung des Betriebsrats sowie die Anzeige
an die Agentur für Arbeit nach § 17 KSchG sind nur rechtzeitig,
wenn sie vor dem Ausspruch der Kündigung erfolgen.
Diese ist insoweit das Ereignis, das in § 17 KSchG als Entlassung bezeichnet ist.
Daher sind auch die Schwellenwerte in § 17 Abs.1 KSchG auf diesen Zeitpunkt
zu beziehen. |
3. |
Dagegen bezieht sich das Wirksamwerden der Entlassungen in § 18 Abs.1 KSchG sowie deren Durchführung
nach § 18 Abs.4
KSchG auf die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Mit diesem Begriffsverständnis lässt sich das deutsche Recht
in die Systematik der Art.2-4 der Richtlinie 98/59/EG, die durch eine vergleichbare
Differenzierung gekennzeichnet sind, widerspruchsfrei einfügen. |
4. |
Eine Kündigung, die unter Verletzung der Konsultations- und Anzeigepflichten
nach § 17 KSchG
ausgesprochen ist, ist unwirksam. Diese Rechtsfolge ergibt sich
bei richtlinienkonformer Auslegung sowohl aus dem Äquivalenzgebot wie
aus dem Effektivitätsgebot. In Anwendung dieser aus dem Gemeinschaftsrecht
folgenden Pflicht ist es hinreichend, wenn im nationalen Recht
eine vertretbare Konstruktion für diese Rechtsfolge besteht.
Mit der früheren Judikatur des Bundesarbeitsgerichts und gewichtigen
Stimmen in der Literatur sind hinreichend tragfähige Begründungen
im nationalen Recht vertreten, auf die zurückzugreifen ist.
Ob der einzelne Arbeitnehmer gehalten ist, sich ausdrücklich
auf diese Unwirksamkeit zu berufen, bedarf keiner Entscheidung. |
5. |
Verwaltungsakte der Agentur für Arbeit, die ohne Prüfung,
ob im Zeitpunkt der Vornahme der Kündigungserklärung
die Massenentlassungsanzeige bereits erstattet war, erfolgt sind,
können für das arbeitsgerichtliche Kündigungsschutzverfahren
keine Tatbestandswirkung entfalten. Ob und inwieweit
in anderen Fällen eine solche Tatbestandswirkung anzunehmen ist,
war in diesem Verfahren nicht zu entscheiden. |
6. |
Die Anwendung dieses Kündigungsverbots ist im vorliegenden Fall nicht
durch Grundsätze des Vertrauensschutzes ausgeschlossen.
Gemeinschaftsrechtlich ist zu beachten, dass der Gerichtshof
von der Möglichkeit der Beschränkung einer Rückwirkung
seiner Entscheidung keinen Gebrauch gemacht (hat). Dem nationalen Recht
ist ein genereller Schutz gegen eine Rückwirkung der Rechtsprechung
nicht zu entnehmen; Rechtssetzung und Rechtsfindung sind zu unterscheiden.
Einem Vertrauensschutz steht für Kündigungen im Jahr 2004
bereits der Umstand entgegen, dass durch den Vorlagebeschluss
des ArbG Berlin, der bereits 2003 in großer Intensität
publiziert und diskutiert worden ist, die bisherige Auslegung
der §§ 17, 18 KSchG nicht als zweifelsfrei
angesehen werden konnte. |
|
| |